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Skandale sprechen nicht gegen
Demokratie
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«Skandale gehören zur Demokratie», meinte zu Beginn dieses Jahres ein
erfahrener deutscher Journalist im Zusammenhang mit den dramatischen Enthüllungen
über die illegalen Spenden- und Finanzpraktiken des früheren Bundeskanzlers
Kohl und anderer CDU-Grössen. Stimmt diese Behauptung?
Als Beobachtung stellen wir zunächst fest, dass die Skandale mit der grössten
Resonanz - und nicht selten auch mit den politisch konkretesten Konsequenzen -
vornehmlich in bewährten Demokratien stattfinden. Das gilt für die
Watergate-Affäre in Amerika, auf deren Höhepunkt der zweimal gewählte
republikanische Präsident Nixon sich nur durch seinen Rücktritt vor der
sicheren Absetzung durch den Kongress retten konnte. Es gilt auch für die
sogenannte Spiegelaffäre in den sechziger Jahren der alten Bonner Republik, als
der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauss vorübergehend aus der
Regierung ausscheiden musste. Andere bekannte Beispiele aus der
Nachkriegsgeschichte unseres nördlichen Nachbarlandes sind die Flick-Affäre
(auch dabei ging es um verdeckte Machenschaften bei der Parteienfinanzierung)
oder der Skandal um das den deutschen Gewerkschaften gehörende
Immobilienimperium «Neue Heimat».
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Zu erinnern wäre weiter an die Affäre um die Versenkung eines
Beobachtungsschiffes der Umweltorganisation Greenpeace durch französische
Geheimdienstagenten - ein mörderischer Anschlag, bei dem auch die Regierung
Mitterrand die Hand im Spiele hatte. Zeitlich etwas näher liegen die Enthüllungen
um korrupte Finanzpraktiken und Günstlingswirtschaft unter führenden Parteien
in Italien - mit der Folge, dass das etablierte Parteiengefüge der
Nachkriegszeit auseinander brach. Weltweites Interesse erregten die
verschlungenen Untersuchungen des Sonderstaatsanwalts Starr gegen Präsident
Clinton. Sie führten schliesslich zur Aufdeckung einer hochnotpeinlichen Sexaffäre
und zu einem erfolglosen Amtsenthebungsverfahren gegen den Herrn im Weissen
Haus. Auch die Schweiz ist als gestandene Demokratie in der jüngeren
Vergangenheit durchaus nicht von aufwühlenden Erschütterungen verschont
geblieben - von der Fichenaffäre über den Fall Kopp bis zu den inneren und äusseren
Kontroversen um nachrichtenlose Konten.
Die These dürfte schwer zu widerlegen sein, dass aus solchen heftigen
Auseinandersetzungen die betroffenen Demokratien letztlich gestärkt
hervorgegangen sind. Wirkliche Skandale (im Gegensatz zu den künstlich
fabrizierten) und deren politische oder rechtsstaatliche Bewältigung sind ein
Beweis dafür, dass demokratische Kontrollen funktionieren. Solche Affären sind
deshalb in der Regel nicht, wie häufig behauptet wird, eine Krise der
Demokratie, sondern eher deren Bewährung. Eine Demokratie ohne jegliche
Skandale wäre zumindest verdächtig - es sei denn, man halte sich an weltfremde
Vorstellungen von einer Gesellschaft mit makellosen Bürgern und Politikern. Öffentlich
gemachte politische Verfehlungen hingegen bieten in einer Demokratie die Chance,
mit Hilfe des Stimmzettels oder der Justiz und anderer rechtsstaatlicher
Institutionen Korrekturen durchzusetzen.
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Seit der Auflösung des kommunistischen Ostblocks wird auch die Öffentlichkeit
in den Ländern des früheren sowjetischen Machtbereichs häufig von politischen
und finanziellen Skandalen bewegt. Im Vergleich mit den Zuständen der alten
Einparteiherrschaft ist dies zweifellos ein Zeichen grösserer Offenheit.
Allerdings ist es namentlich in der russischen «Halbdemokratie» bisher noch
nicht weit her mit politischen oder juristischen Eingriffen gegen
Machtmissbrauch und Korruption. Verbesserungen dürften nicht zuletzt von
wirtschaftlichen Fortschritten abhängig sein, die auch die elenden
Lebensbedingungen der breiten Massen merklich verbessern würden. Ohne solche
Fortschritte werden die Manipulatoren der öffentlichen Meinung im Umkreis des
Kreml die in «reiferen» Demokratien geforderten Konsequenzen von Skandalen -
umfassende Aufklärung und drohende Machteinbusse für die Fehlbaren - verhältnismässig
leicht verhindern können. Vom Ausland her kann durch Aufdeckung finanzieller
Machenschaften oligarchischer Machtgruppen mit dazu beigetragen werden, solchen
Skandalen näher auf den Grund zu kommen. Beispiele in diesem Sinne sind der
Fall Mabetex oder die vor kurzem erfolgte Verurteilung des früheren
ukrainischen Ministerpräsidenten Lasarenko in Genf.
Politische Affären sind in einer funktionierenden Demokratie wohl
unvermeidlich, aber ihr Ausgang ist für die Betroffenen selten gleichbedeutend
mit einem Urteil von geschichtlichem Bestand. Skandale sind nicht zuletzt temporäre
öffentliche Erregungen, für die es allerdings einen realen Anlass braucht. Mit
wachsender zeitlicher Distanz relativiert sich fast automatisch auch der
Stellenwert des Skandals, er wird zu einem unter vielen Aspekten in der
Beurteilung eines historischen Kapitels. Wenn in den Gefühlsaufwallungen einer
politischen Affäre allzu einseitige oder apodiktische Verdammungen verhängt
werden, so darf der Betroffene in der Regel für die Zeit nach dem reinigenden
Sturm mit einem gnädigeren und ausgewogeneren Verdikt rechnen. Richard Nixon,
der «Schurke» im Watergate-Skandal, wurde nach langen Jahren in der
politischen Wüste als eifriger Bücherschreiber und Weltreisender in höherem
Alter respektvoll als «elder statesman» behandelt. Die Affäre um den
DDR-Spion Guillaume, die Bundeskanzler Willy Brandt zum Rücktritt veranlasst
hatte, ist heute eine schon halb vergessene Episode in der Vita des berühmten
SPD-Politikers.
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Helmut Kohl, bekannt für sein langes Gedächtnis, rechnet mit Sicherheit
damit, dass der Skandal um die unlauteren Manipulationen mit Parteispenden, der
gegenwärtig in der öffentlichen Wahrnehmung sein politisches Lebenswerk überschattet,
in absehbarer Zeit ad acta gelegt wird. Einiges spricht dafür, dass spätere
Historiker Kohls Umgang mit schwarzen Kassen und illegalen Spenden einmal als
blosse Fussnote in der bewegten Epoche der deutschen Wiedervereinigung einstufen
werden. Vielleicht wird man Kohls selbstherrlichen Umgang mit Parteifinanzen gar
als clevere Manöver eines unzimperlichen Machtpraktikers für höhere Ziele würdigen.
Wer kritisiert heute noch Bismarcks geheimen «Reptilienfonds», mit dessen
Hilfe er den tief in Geldnöten steckenden Bayernkönig Ludwig II. dazu brachte,
der Gründung des deutschen Kaiserreichs zuzustimmen? Freilich herrschten zu
Bismarcks Zeiten noch vordemokratische Zustände.
Kohl sollte sich aber fragen, ob ein Realist wie Bismarck unter heutigen
Bedingungen sich ebenfalls so hartnäckig darauf versteifen würde, die Namen
schwarzer Spender unter Berufung auf ein fragwürdiges Ehrenwort zu verschweigen
- und damit die für ihn und seine Partei höchst schädliche Debatte über das
«System Kohl» unnötig in die Länge zu ziehen.
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Politische Skandale stellen beträchtliche Anforderungen an die demokratische
Öffentlichkeit. Die Medien spielen bei der Aufdeckung meist eine zentrale
Rolle. Doch oft werden, zwecks Auflagesteigerung und höherer Einschaltquoten,
Affären über alle vernünftigen Proportionen hinaus aufgeblasen. Beim Skandal
kommt Doppelmoral in der Regel nicht allein auf Seiten der angeprangerten
Politiker zum Vorschein. Für den mündigen Bürger ist das kein Grund, sich von
solchen Szenen angewidert abzuwenden. Um zu erkennen, was eigentlich gespielt
wird, sollte er im Gegenteil möglichst genau hinsehen.
[R. M., Neue Zürcher Zeitung, 8. Juli 2000]
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