Der folgende Lexikonartikel
benennt die wesentlichen Aufgabenfelder der Friedens- und Konfliktforschung
und zeichnet die Entstehung und Entwicklung des Faches nach. Ein weiterer Text
auf einer gesonderten Seite weist auf ein Defizit dieses Forschungszweigs hin,
nämlich die Vernachlässigung der Suche nach friedensstiftenden Strategien.
"I.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Krieg und Frieden ist wohl so alt wie
Wissenschaft überhaupt. Dennoch dauerte es
bis in die 50er Jahre unseres Jahrhunderts, bis mit der Friedens- und
Konfliktforschung eine wissenschaftliche Teildisziplin entstand, die sich
ausschließlich mit der Erforschung des Krieges und von Konflikten sowie den
Bedingungen des Friedens beschäftigt.
Vereinzelte Ansätze einer Friedenswissenschaft wurden wiederholt im
19.Jahrhundert im Zusammenhang mit der bürgerlichen Friedensbewegung
unternommen. Doch erst unter dem Eindruck der Gräuel der industriellen
Massenvernichtung im I. Weltkrieg entstanden neben dem Völkerbund und dem
Internationalen Gerichtshof Institute für Internationale Beziehungen in den USA
und in Großbritannien mit der Aufgabe, internationale Konflikte und Kriege,
aber auch Revolutionen und Bürgerkriege sowie die Bedingungen eines dauerhaften
Weltfriedens zu erforschen. Bald nach 1920 blieb jedoch nur noch wenig von dem
Anspruch übrig, Krieg und Frieden in den Mittelpunkt der Wissenschaft von den
internationalen Beziehungen zu stellen. Die neue Disziplin wurde rasch zu einer
Legitimationswissenschaft der jeweiligen nationalen Außenpolitik und ihrer
machtpolitischen und militärischen Interessen.
Die erneute politische und moralische Erschütterung des Staatensystems durch
den II. Weltkrieg sowie die politisch organisierte Massenvernichtung im
Stalinismus und Faschismus, vor allem aber die Aussicht auf einen drohenden völkermordenden
Atomkrieg ließ die Friedensforschung Ende der 50er Jahre als Reaktion auf die
vorherrschende Ideologie des Kalten Krieges in den internationalen Beziehungen
entstehen, zunächst vereinzelt an Universitäten und in privaten
Forschungsanstalten Kanadas, der USA und Norwegens. Parallel dazu bemühte sich
eine von wenigen Personen betriebene Polemologie (Wissenschaft vom Krieg und von
den Konflikten) in Frankreich und in den Niederlanden um das systematische
Studium vom Kriege und von den Konflikten.
Nicht mehr die Hegung, die Eingrenzung und Beschränkung der Kriege und der
Kriegsführung ist das Ziel der Friedensforschung, sondern die Abschaffung des
Krieges als einer gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Verkehrsform. Damit
greift die Friedensforschung die Weltfriedensutopie auf, die Ende des 18. und in
der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ein zentrales Motiv in der liberalen und
republikanisch-demokratischen Bewegung des Bürgertums gewesen war und dann vor
allem durch die Arbeiterbewegung in erneuerter Form aufgegriffen und verbreitet
worden ist.
Die eher kriegshegende und konfliktkontrollierende Denkrichtung schlug sich zunächst
parallel zur Friedensforschung in der Konfliktforschung vor allem in den USA (Journal
of Conflict Resolution 1957) nieder, ehe in den 60er Jahren beide
Tendenzen sich in der Friedens- und Konfliktforschung vereinigten.
II. Im Zuge der internationalen Entspannung gelang 1964 die Konstitution der International
Peace Research Association in Groningen. Das ebenfalls 1964 in Oslo gegründete
Journal
of Peace Research trug wesentlich zur internationalen Ausbreitung von
Friedensforschung bei. Durch den Aufbau lateinamerikanischer und asiatischer
Regionalorganisationen Ende der 70er Jahre griff die Friedensforschung Ende der
70er Jahre weit über Nordamerika, Westeuropa und Japan hinaus und erreichte im
Prinzip weltweite Ausbreitung, wobei Anstrengungen im Rahmen der UNESCO
Vermittlungsdienste leisteten.
Einen Durchbruch erlebte die Friedensforschung mit der staatlichen Einrichtung
und Förderung des Stockholmer International
Peace Research Institute, das 1966 anlässlich der 150jährigen
Neutralität Schwedens gegründet wurde und wissenschaftliche Grundlagen für
die schwedische und internationale Abrüstungsdiplomatie bei der UNO in Genf
schaffen soll. Das von SIPRI herausgegebene Yearbook
of World Armaments and Disarmament mit Daten und Analysen zur
Entwicklung der Rüstungsausgaben und Waffensysteme hat der Friedensforschung
internationale Aufmerksamkeit verliehen.
Die Entspannung und das Zurücktreten des Ost-West-Konflikts im allgemeinen
Bewusstsein, der Vietnamkrieg und die Entwicklungsprobleme in der Dritten Welt
lenkten die Aufmerksamkeit zusätzlich auf die Nord-Süd-Problematik. Hieraus
resultierte eine wesentliche Paradigmenerweiterung der Friedensforschung
jenseits der bis dahin vorherrschenden Auseinandersetzung mit der Rüstungsdynamik,
dem Abschreckungssystem, der Rüstungskontrolle und der Abrüstung.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung bzw. dem Wiederaufgreifen der Begriffe
asymmetrischer Konflikt, Interessenkonflikt, manifester und latenter Konflikt
fand die Paradigmenerweiterung ihren Ausdruck vor allem im Begriff der
Strukturellen Gewalt (Galtung 1969), der
in den liberalen, teils auch sozialistischen Teilen der westlichen Öffentlichkeit
rasch aufgegriffen wurde, die sich dem Problem der Reformierung des
internationalen Staaten- und Gesellschaftssystems stellte.
Die Diffusität des Begriffs der strukturellen Gewalt hat das Forschungsgebiet
der Friedensforschung immens ausgedehnt, damit aber auch tendenziell grenzenlos
zur Universalwissenschaft erweitert und überfordert. In den 70er Jahren wurde
diese Ausweitung jedoch zunächst vielfach als befreiend empfunden, da die alten
Ansätze den modernen Problemen der internationalen Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft, ihres Staatensystems und ihrer Umwelt nicht mehr angemessen
schienen.
Friedensforschung wirkte dabei vor allem in die Politikwissenschaft, Psychologie
(Aggressionsforschung), Theologie, Pädagogik und Geographie hinein,
beeinflusste aber auch Physik, Biologie, Informatik, Philosophie,
Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft und Militärwissenschaft
(Strategische Studien), weniger jedoch die Soziologie - offenbar wegen deren
traditionellen Beschränkung des Gesellschaftsbegriffes auf den
nationalstaatlichen Rahmen.
Seit der Krise der Entspannung ab Ende der 70er Jahre, als der Ost-West-Konflikt
und damit auch die Möglichkeit eines Atomkrieges erneut in den Vordergrund der
Aufmerksamkeit in den Industriestaaten rückten, findet eine Rückbesinnung auf
das zentrale Anliegen der Friedensforschung statt, nämlich auf das Studium der
Bedingungen einer dauerhaften Kriegsverhütung, der Kriegsursachen, der
Konfliktinformationen und der Rüstungsdynamik, ohne die Bedeutung zumindest der
tödlichen und kriegsträchtigen strukturellen Gewalt aus den Augen zu
verlieren, die für die meisten Menschen nach wie vor weitaus bedrohlicher ist
als der konventionelle Krieg.
[Egbert Jahn: Friedens- und
Konfliktforschung, in: Dieter Nohlen (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik, München
1989, S. 256-258]
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