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Der folgende Text zeichnet die Entwicklung Großbritanniens seit dem Zweiten Weltkrieg nach, also den zeitgeschichtlichen Hintergrund für die Entwicklung des Parteiensystems. Ausgehend vom Nachkriegskonsens und der britischen mixed economy werden mit dem "Thatcherismus" und Blairs "Drittem Weg" die beiden wesentlichen Orientierungen dieser Periode der britischen Geschichte angesprochen. Weitere Texte im Rahmen dieses Abschnitts beschäftigen sich mit folgenden Themen:

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Entwicklung Großbritanniens seit 1945

Überblick:

Nachkriegskonsens 

"Thatcherismus" 

Blairs "Dritter Weg"

Charles Dickens (1812-1870) hat in seinen Romanen das viktorianische England des 19. Jahrhunderts, die Befindlichkeiten und die sozialen Konflikte in einem Land von imperialer Größe und Weltgeltung geschildert. Sein Englandbild prägt noch heute die Vorstellungskraft vieler ausländischer Beobachter. Doch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese von außen gesehen scheinbar in sich ruhende Welt aufgerüttelt. Mit der gewachsenen Bedeutung der Arbeiterschaft und ihrer Gewerkschaften als politische Kraft, mit ersten Ansätzen zur Frauenemanzipation (Frauenwahlrecht 1918) sowie mit der Thematisierung der sozialen Problematik und der Infragestellung des britischen Weltreiches in zwei Weltkriegen veränderte sich das Selbstverständnis britischer Innen- und Außenpolitik grundlegend.

Nachkriegskonsens

Die Kriegsanstrengungen hatten 1945 das Land zwei Drittel seines Außenhandelsvolumens gekostet und die Staatsverschuldung verdreifacht. Großbritannien war von amerikanischer Finanzhilfe abhängig, und die Währung des Landes verlor stetig an Wert. Ein Zurück zur früheren Weltmachtrolle war aus wirtschaftlichen Gründen ebenso wenig möglich wie aus politischen. Viele der britischen Kolonien verlangten nach Selbstbestimmung. Auch zuvor gesellschaftlich benachteiligte Gruppen forderten ihre Rechte ein. Ihr Selbstbewusstsein war gestiegen, da der Krieg in bisher nie gekanntem Maße die Bevölkerung als Ganzes mobilisiert, die Frauen in den Produktionsprozess einbezogen und Vollbeschäftigung hergestellt hatte.

Innenpolitisch standen daher für alle Nachkriegsregierungen zunächst die Versorgung der Bevölkerung und später die Verbesserung des Lebensstandards sowie die Wiederherstellung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft im Vordergrund. Auch wenn die großen Parteien des Landes, die Arbeiterpartei (Labour Party) auf der politischen Linken und die Konservative Partei (Conservatives) auf der politischen Rechten, nicht in allen Einzelheiten übereinstimmende Strategien zum Erreichen dieser Ziele verfolgten, so lässt sich dennoch von einem Nachkriegskonsens in der britischen Politik sprechen.

Grundlage der gemeinsam verfolgten Politik, die ihre theoretische Begründung in den Schriften des britischen Nationalökonomien John Maynard Keynes (1883-1946) fand, war der Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Das heißt konkret, der Aufbau eines alle Bürger einbeziehenden staatlich finanzierten Systems der sozialen Sicherung und die Übernahme staatlicher Verantwortung für die Wirtschaft. Der Staat versuchte nicht nur, durch Konjunkturpolitik Wirtschaftskrisen zu vermeiden, sondern engagierte sich auch durch entsprechende Vorgaben und Kontrollen bei der Gestaltung der Preise und der Löhne.

Vor allem in Regierungszeiten der Labour Party übernahm der Staat zudem Schlüsselsektoren der Wirtschaft wie die Elektrizitätswirtschaft, die Fluglinien, das öffentliche Transportwesen, die Gasversorgung oder die Eisen und Stahlindustrie. Die britische Wirtschaftsordnung war bis in die Mitte der achtziger Jahre eine Mischwirtschaft ("mixed economy"): Sie beruhte auf dem Zusammenspiel von in Staatsbesitz und in Privatbesitz befindlichen Unternehmen.

Der Lebensstandard der britischen Bevölkerung verbesserte sich bis Anfang der siebziger Jahre merklich. Es gelang aber nicht, die Wirtschaftskraft des Landes im internationalen Vergleich entscheidend zu stärken. Die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der britischen Wirtschaft ließ selbst deren weniger bedeutende Exporte in die Länder ihres untergegangenen Kolonialreiches schrumpfen. Großbritannien galt in den siebziger Jahren als der "kranke Mann Europas", der von der "britischen Krankheit" geschüttelt wurde. Als Symptome dieser Krankheit wurden hohe Inflationsraten, ein Dauerdefizit im Außenhandel, zu hohe Löhne (gemessen an der wirtschaftlichen Produktivität), häufige Arbeitsniederlegungen, veranlasst durch die mächtigen Gewerkschaften sowie eine generelle Feindseligkeit gegenüber wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuerungen angesehen. Die Labour-Regierungen der siebziger Jahre versuchten vergeblich, durch die Einbindung der Gewerkschaften in wirtschaftspolitische Entscheidungen die Anzahl der Streiks zu begrenzen und die Effizienz staatlicher Lohn- und Preispolitik zu erhöhen.

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"Thatcherismus"

Der Wahlsieg der Konservativen Partei. geführt von Margaret Thatcher, im Jahre 1979 war eine Konsequenz dieses Scheiterns. Er markierte das Ende des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachkriegskonsenses. Während die oppositionelle Labour Party in den achtziger Jahren weiter an dem alten wohlfahrtstaatlichen Ideal festhielt, wandten sich die konservativen Regierungen von ihm ab. Anders als die Labour-Regierungen der siebziger Jahre sah Premierministerin Margaret Thatcher es nicht als Aufgabe des Staates an, Lohn-, Einkommens- oder Konjunkturpolitik zu betreiben.

In ihrer ersten Amtszeit vertraute sie auf die Geldpolitik und deren Lenkungswirkung auf die Volkswirtschaft (Monetarismus) und später auf eine Politik der Inflationsbekämpfung zur Sicherung möglichst optimaler Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozesse. Sie griff damit den internationalen Wandel wirtschaftspolitischer Leitideen auf, der auf die Theorien des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman zurückging.

Margaret Thatcher setzte sich offensiv mit der Macht der Gewerkschaften auseinander und schränkte diese durch eine umfassende Gesetzgebung drastisch ein. Die Niederlage der Bergarbeiter im erbittert geführten Streik der Jahre 1984/85 war zugleich Höhe- und Schlusspunkt des politisch motivierten Protestes der Gewerkschaften gegen die konservative Regierung, als dessen Speerspitze sich die Bergarbeitergewerkschaft verstand. Diese Niederlage stellt deshalb auch das symbolische Ende der politischen Macht der Gewerkschaften dar (...). Die "mixed economy" wurde in den Regierungsjahren Margaret Thatchers durch eine umfassende Privatisierungspolitik zu einer fast ausschließlich privatwirtschaftlich organisierten Marktwirtschaft umgebaut. Maßstab in der Sozialpolitik war nicht länger der Bedarf an Leistungen, sondern deren Finanzierbarkeit. Arbeitslosigkeit wurde nicht mehr als gesellschaftliches Problem, sondern als individuelles Schicksal verstanden. Die Verantwortung für die Suche nach Beschäftigung hatten nun in erster Linie die Betroffenen. Ein soziales Netz, das Arbeitsunwillige und Arbeitssuchende in gleicher Weise auffing, sollte nicht mehr aufrechterhalten werden.

Wo immer dies der Regierung möglich schien, zog sich der Staat aus der Gesellschaftspolitik zurück und machte der Eigeninitiative bzw. der Privatwirtschaft Platz. Die Disziplin der Märkte sollte Wirtschaft und Gesellschaft modernisieren. Ziel dieser Politik war es, die britische Wirtschaft von nicht wettbewerbsfähigen Strukturen zu befreien, die unternehmerische Initiative zu fördern und den einzelnen Briten aus der vermeintlichen Passivität des Empfängers sozialer Leistungen herauszuholen.

Begleiterscheinungen wie größere Armut, Obdachlosigkeit, die wachsende Ungleichheit in der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums oder die Unzufriedenheit in denjenigen Regionen des Landes, die der Wirtschaftsboom der späten achtziger Jahre nicht erfasste, wurden von den konservativen Regierungen als zeitweise unvermeidlich hingenommen. Einsparungen im Sozialbereich sollten nicht die wirklich Bedürftigen treffen, wohl aber diejenigen, die unberechtigt von den Leistungen des Wohlfahrtsstaates profitierten. Soziale Probleme sollten wieder stärker als Probleme der Gesellschaft und weniger als Probleme des Staates gesehen werden. Die Sparpolitik der Regierung Thatcher wurde auch mit der Notwendigkeit begründet, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen und die Inflation zu bekämpfen, die aus Regierungssicht in engem Zusammenhang mit staatlicher Verschuldungspolitik stand.

Die wirtschaftspolitischen Ziele der Regierung Thatcher wurden von ihr Mitte der achtziger Jahre zum großen Teil erreicht. Zwar lag die Zahl der Arbeitslosen 1987 noch immer bei über zehn Prozent, aber die Inflationsrate war mit circa vier Prozent so niedrig wie noch nie seit den sechziger Jahren. Auch dank der von der Regierung Thatcher erzielten Privatisierungserlöse und dank der Einnahmen des Landes aus der Besteuerung der Nordseeölförderung waren die britischen Staatshaushalte Ende der achtziger Jahre nicht nur ausgeglichen. Es konnten sogar Haushaltsüberschüsse erzielt werden, die zum Abbau der im europäischen Vergleich hohen staatlichen Schuldenlast genutzt wurden. Die Steuerreform von 1988 vereinfachte das Steuersystem und senkte den Spitzensteuersatz auf ein Niveau, das außer in den USA nirgendwo erreicht wurde. Dies erhöhte die Attraktivität des Landes für die in der Regierungszeit Thatcher boomenden ausländischen Direktinvestitionen (...).

Die Politik Margaret Thatchers war so prägend für die achtziger Jahre, dass "Thatcherismus" zu einem Schlagwort für eine Politik wurde, die sich rigoros für eine möglichst staatsfreie Form der Marktwirtschaft einsetzt. Wie Meinungsumfragen in der Regierungszeit Margaret Thatchers und ihres ebenfalls der Konservativen Partei angehörenden Nachfolgers John Major aber immer wieder zeigten, fehlte es einigen zentralen politischen Initiativen der achtziger Jahre, wie der Privatisierung, der Reform des Gesundheitswesens oder der Reform der Gemeindesteuern, an Unterstützung in der Bevölkerung. Auch wenn in der Gesellschaft die Einsicht wuchs, dass der Staat eine bescheidenere Rolle für das Gemeinwesen spielen sollte und jeder einzelne Bürger mehr Eigenverantwortung übernehmen müsse, war diese gesellschaftliche Neuorientierung nie sehr populär. Vor allem war die große Mehrheit der britischen Bevölkerung nicht bereit, die negativen sozialen Folgen des Thatcherismus zu akzeptieren. Die Wahlerfolge Margaret Thatchers sind sicherlich nicht auf die Popularität ihrer Sozialpolitik, sondern auf andere Faktoren situativer Art (zum Beispiel ihren Triumph im Falkland-Krieg 1982), ihre Führungskraft, ihre Steuer- und Finanzpolitik und die Schwäche der Opposition zurückzuführen.

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Blairs "Dritter Weg"

Die Labour Party griff in ihrem Wahlkampf 1997 die ambivalente Grundstimmung der Bevölkerung erfolgreich auf. Sie argumentierte, dass sie zwar keine Rückkehr in die siebziger Jahre wolle, es aber nicht hingenommen werden könne, dass Teile der Gesellschaft bzw. die außerhalb des südöstlichen Wachstumspols liegenden Regionen des Vereinigten Königreiches von den wirtschaftlichen Erfolgen des Landes ausgegrenzt blieben. Die Effizienz der Privatwirtschaft will auch der der Labour Party angehörende Premierminister Tony Blair nutzen. Sie soll aber gekoppelt werden mit den Zielen der sozialen Gerechtigkeit und der "Versöhnung" gesellschaftlicher Gegensätze.

Tony Blairs "dritter Weg" ist als pragmatische Strategie, als Mittelweg zwischen den etwas grobschlächtig dargestellten Extremen "kaltherziger Kapitalismus" einerseits und zu sehr in die gesellschaftlichen Belange eingreifender Wohlfahrtspolitik andererseits konzipiert worden. Ziel der Strategie ist es, durch ein effizientes Bildungssystem jedem einzelnen, unabhängig von seiner Herkunft, ähnliche Startchancen in die Gesellschaft zu gewähren und jeden, der möchte, durch Arbeit am gesellschaftlichen Erfolg zu beteiligen. Anders als der Wohlfahrtsstaat garantiert der "dritte Weg" keine soziale Absicherung ohne eigene Leistung und die Wahrnehmung eigener Verantwortung. Im Unterschied zur Politik der Konservativen möchte die Labour-Regierung niemanden ausgrenzen, der leistungsbereit ist, nur weil er im "falschen" Elternhaus oder in der "falschen" Gegend aufgewachsen ist. Soziale Probleme sollen nicht hingenommen, sondern angepackt werden. Es ist aber nicht beabsichtigt, die Lösung dieser Probleme allein dem Staat zu überlassen.

Das Ziel staatlicher Initiative ist vielmehr , die Gesellschaft, also in erster Linie die betroffenen Personen, Familien, sozialen Gruppen, Gemeinden oder Interessengruppen, in die Lage zu versetzen, sich selbst zu helfen. Was der Staat konkret tun kann, um die Gesellschaft zu einen und die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft zu fördern, ist aus der Sicht des "dritten Weges" nicht ökonomischen oder philosophischen Lehrbüchern zu entnehmen. Der Staat ist permanent aufgefordert, ohne ideologische Scheuklappen diejenige Strategie zu suchen, die den Bürgern Freiräume öffnet und deshalb auch am besten funktioniert. Zu dieser Öffnung gehört nach Ansicht der Regierung Blair auch eine Modernisierung der Verfassung und der politischen Institutionen des Landes, beispielsweise durch die Stärkung der bürgerlichen Grundrechte und neue demokratisch gewählte Parlamente unter anderem in Schottland und Wales. Dies gilt als Voraussetzung für die verbesserte Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in den politischen Prozess und damit letztendlich auch für die "Wettbewerbsfähigkeit" des Modells der britischen Demokratie.

[aus: Roland Sturm: Entwicklung Großbritanniens seit 1945; in: Informationen zur Politischen Bildung 262, "Großbritannien", Bonn BpB 1999]

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